23. Okt. bis 22. Nov 2014

«Sister Europe»

kuratiert von Lesya Prokopenko 
Kyiv Platform for Contemporary Art
p-c-a.org.ua

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Die Ausstellung präsentiert Werke ukrainischer KünstlerInnen, die in Reaktion auf die momentan in ihrem Land laufenden Ereignisse die Gegebenheiten vor dem politischen Wechsel untersuchen oder eine neue Gesellschaft entwerfen.

Um die Proteste, die Invasion und den niemals explizit erklärten brutalen Krieg in der Ukraine vor dem Hintergrund der langfristigen gesellschaftlichen und politischen Veränderungen zu beschreiben, scheinen Verallgemeinerungen unumgänglich. Doch jeder neue Versuch, die Ereignisse in der Ukraine in ihrer Gesamtheit zu verstehen und historisch einzuordnen, scheint die tatsächliche Lage umgehend zu verzerren. Hinzu kommt noch, dass jedes schlüssige Deutungskonstrukt eine leichte Beute für IdeologInnen und PropagandistInnen wird. Dekoriert mit frei erfundenen Zusätzen können Einsichten somit zu allzu schlichten Parolen degenerieren.

Wie soll man aber sonst über die momentane Situation in der Ukraine sprechen? Der einzige Weg ist sichtlich, näher und unter leicht verändertem Blickwinkel hinzublicken. Erst muss man die eigenen Erfahrungen und Irrtümer in die richtige Perspektive bringen, um dann das Allgemeine verstehen zu versuchen. Die Proteste auf dem Maidan wurden von Anfang an von den sozialen Medien angetrieben und begleitet. Monatelang war es in Kiew ganz normal, zwischen Straße und Computer hin und her zu pendeln. Doch auch Besatzung und Krieg sind nicht anders. Die tödliche Realität wird von Millionen UserInnen in den sozialen Medien weitergegeben, nachdem sie von Privatpersonen auf eigene Faust in Militärspitälern oder besetzten Städten recherchiert wurde.

Die Ausstellung rekonstruiert die Ereignisse also aus den Perspektiven und persönlichen Erlebnissen der teilnehmenden KünstlerInnen. Berichte aus erster Hand und durch jeweils subjektive Lesarten betrachtet werden zu Fragmenten des ukrainischen Puzzles, mit dem die verschiedenen politischen Agenden dekonstruiert und der heillose Eklektizismus der offiziellen Berichterstattung sichtbar gemacht wird. Durch den Fokus auf das Detail und den Kontext zeigen diese Fragmente aber auch den Informationsüberfluss und die Fixierung auf die jeweils tagesaktuellen Bilder, anhand derer die UkrainerInnen die Ereignisse in ihrem Land verfolgen. Dahinter jedoch zeichnen sich schemenhaft erste Ansätze ab, wie man die historischen und politischen Wechselfälle eines Staates begreifen könnte, der mit seiner sowjetischen Vergangenheit und mit den postsowjetischen Symptomen zugleich brechen will.

So werden die Skulpturen, die Zhanna Kadyrova über die letzten Jahre geschaffen hat, plötzlich zu realistischen Illustrationen zerstörter Leuchttafeln und Fassaden im Zentrum Kiews. Mykola Ridnyi wiederum schafft eine pointierte Sicht auf die Proteste, indem er Aufnahmen vom Maidan mit mittelalterlichen Motiven kontrastiert. In einer anderen Arbeit sieht man, wie die wahnwitzigen Verteidigungs- und Bunkeranlagen aus dem Kalten Krieg in den besetzten Gebieten jäh wieder in Verwendung gelangen. Oleksiy Radynski präsentiert eine ungeschönte Dokumentation von Konfrontationen und militärischen Übungen, die fast ins Absurde kippen. Ähnlich die während des winterlichen Höhepunkts der Gewalt aufgenommenen Fotografien von Oleksandr Burlaka und Ivan Melnychuk. Lada Nakonechna wiederum führt uns mit ihrer nüchternen künstlerischen Dokumentation die unmittelbar körperlichen und politischen Aspekte der Tumulte vor Augen. Der Barrikadenbau auf dem Maidan wird mit den persönlichen körperlichen Anstren­gungen der Künstlerin illustriert. Und auch Vova Vorotniov thematisiert die körperliche Wucht der Proteste, ohne einzelne Menschen dabei in den Mittelpunkt zu stellen. Sie alle sagen: So war es! Unsere Ge­schich­te muss erst geschrieben werden!

Die Ausstellung ist kuratiert von Lesya ­Prokopenko.

 

* Titel eines Songs der britischen Rockband Psychedelic Furs aus dem Jahr 1979. Ohne Europa direkt zu erwähnen, deutet der düster romantische Song ein Heimkommen nach Bruch und Trennung an, das indes auch etwas Unheimliches hat. Genauso präsentiert auch die Ausstellung «nur» persönliche Erlebnisse aus der Ukraine, verweist zugleich aber auf die Allgegenwart Europas hinter den Protesten im Land. Europa ist Ansporn, Zeugin, unsichtbare Idee, Kontinent, das Andere, blutsverwandt.

Kyiv Platform for Contemporary Art (p-c-a.org.ua) ist eine unabhängige Non-Profit-Organisation zur Entwicklung der Kulturszene in Kiew. Die Plattform fördert  innovative Formen der Bildung für junge Künstler und Künstlerinnen, die Integration von Kunst im öffentlichen Raum sowie die Realisierung kuratorischer Forschungsprojekte, um neue Möglichkeiten für ukrainische Gegenwartskunst zu schaffen und sie in der internationalen Kunstszene zu positionieren. Kyiv Platform of Contemporary Art wurde im Jahr 2009 gegründet.

Lesya Prokopenko lebt und arbeitet in Kiew, Ukraine. Seit 2009 ist sie in unabhängigen Kunstprojekten engagiert, beginnend mit den Ausstellungen «Those who are near us» und «Childhood Uncensored» am Visual Culture Research Centre. Sie koordinierte das Hauptprojekt der 1. Kyiv Biennale for contemporary art Arsenale 2012. Sie lieferte Beiträge für Flash Art International, Public Art China, Krytyka Polityczna, Theory & Practice und Art Ukraine. Seit 2013 ist sie Programmdirektorin der Kyiv Platform for Contemporary Art (p-c-a.org.ua). Im Rahmen ihrer Arbeit am PCA kuratierte sie u.a. die Ausstellungen «Postcards from Maidan» am Brama Grodzka Theater (Lublin/PL) und am CCA Zamek Ujazdowski (Warschau). 

Oleksandr Burlaka wurde in Kiew geboren, wo er auch heute lebt und arbeitet. 2005 schloss er die Kiewer Universität für Bautechnik und Architektur ab und arbeitet seitdem als Architekt und Künstler. Burlaka ist Mitglied bei Melnychuk-Burlaka, der Grupa predmetiv sowie dem interdisziplinären KuratorInnen­kollektiv Hudrada. Zudem war er Forscher beim Ausstellungsprojekt «Trespassing Modernities» im SALT Galata in Istanbul. Als Gruppe nahmen Melnychuk-Burlaka am Programm der Bergen Assembly 2013 teil. Ihr jüngstes Projekt «Island» wurde 2014 im Visual Culture Research Center in Kiew gezeigt.

Zhanna Kadyrova lebt und arbeitet in Kiew. Sie ist Trägerin des Kasimir-Malewitsch-Kunstpreises, des Sergey Kuryokhin Modern Art Award for Public Art, des Hauptpreises beim Kyiv Sculpture Project (alle 2012) sowie des Hauptpreises des Pinchuk Art Centre Prize 2013. Ihre Kunst wurde weltweit ausgestellt, 2013 zum Beispiel auf der 55. Biennale von Venedig, der Moskauer Biennale sowie im Palais de Tokyo in Paris. Ihre jüngsten Ausstellungen sind «Angry birds» (Museum moderner Kunst Warschau), die Einzelausstellung «Crowd» am Pinchuk Art Centre in Kiew, «Myth of Ukrainian Baroque» am Nationalen Kunstmuseum der Ukraine in Kiew sowie die Teilnahme am Kyiv Sculpture Project 2012.

Ivan Melnychuk wurde im ukrainischen Lutsk geboren und lebt heute in Kiew. Als Architekt und Künstler ist er Mitglied bei Melnychuk-Burlaka, der Grupa predmetiv sowie der Selbsthilfegruppe der Kulturschaffenden. Seine Arbeitsschwerpunkte sind die Dokumentation und Analyse urbaner Veränderungen.

Lada Nakonechna lebt und arbeitet als Künstlerin in Kiew. Sie ist Mitglied der Gruppe R.E.P. sowie des KuratorInnenkollektivs Hudrada. 2008 war sie Finalistin beim Kasimir-Malewitsch-Kunstpreis, 2009 und 2011 beim Pinchuk Art Centre Prize. Ihre Arbeiten wurden im Nationalen Kunst­museum der Ukraine, dem Zentrum für zeitgenössische Kunst Zamek Ujazdowski in Polen, dem Staatlichen Museum für Gegenwartskunst der Russischen Akademie der Künste, dem Kalmar Konstmuseum in Schweden, dem Kunstraum München, dem De Appel in Amsterdam sowie im öffentlichen Raum Leipzigs, Lublins und Kiews gezeigt. Die Künstlerin nahm an den Biennalen Venedig, Kiew, Moskau, Prag und Kattowitz teil.

Oleksiy Radynski ist ein Filmemacher und Autor aus Kiew. Er ist Mitglied des 2008 in Kiew gegründeten Visual Culture Research Center, einer Initiative für Kunst, Forschung und Politik. Zudem gibt Radynski seit 2011 die ukrainische Ausgabe der Zeitschrift «Political Critique» heraus. Zu seinen jüngsten Textveröffentlichungen ge­hören Essays in «Soviet Modernism 1955– 1991: Unknown Stories» (hg. Katharina Ritter, Ekaterina Schapiro-Obermair und Alexandra Wachter, 2012), «Post-Post-Soviet? Art, Politics, and Society in Russia at the Turn of Decade» (hg. Marta ­Dziewianska, Ilya Budraitskis und Ekaterina Degot, 2013) und in «Sweet Sixties: Specters and Spirits of a Parallel Avant-Garde» (hg. Ruben Arevshatyan und Georg Schöllhammer, 2014). Aktuelle ­Filme: «Incident in the Museum» (2013), «Ukraine Goes To War» (zusammen mit Tomas Rafa, 2014) und «Integration» (2014).

Mykola Ridnyi ist ein Künstler und Kurator aus Charkiw. Seit 2005 Mitglied der Gruppe SOSka ist er auch Mitgründer und Kurator der Galerie/des Labors SOSka, einem von KünstlerInnen betriebenen Offspace zur Förderung des lokalen Kunstschaffens in Charkiw. 2014 war Ridnyi im DAAD-Programm in Berlin und 2011 nahm er an der von Pipilotti Rist kuratierten Sommerakademie im Centrum Paul Klee in Bern teil. Zu seinen letzten Einzelausstellungen gehören «Shelter» am Visual Culture Research Centre in Kiew 2014 sowie «Labor Circle» am CCA Zamek Ujazdowski in Warschau 2012. 2013 war er an «The Monument to a Monument» im ukrainischen Pavillon der 55. Kunstbiennale Venedig beteiligt.

Vova Vorotniov ist Künstler und Kurator in Kiew. Seine jüngsten Projekte sind «Nothing to See» (Warschau 2014), «The Motive for Peace» (als Kurator, Parallelprogramm zur Manifesta 10 in Petersburg 2014) und eine Einzelausstellung in der Upominki Gallery in Rotterdam 2013. Ausgewählte Gruppenausstellungen: «Ukrainian News» (CCA Zamek Ujazdowski, Warschau 2013), die 1. Kyiv-Biennale ARSENALE 2012, «Ukrainian body» am Center for Visual Culture in Kiew 2012, «Samson» im Rahmen des Programms «Search. Other Spaces» (CSM, Kiew 2012). 2010 kuratierte ­Vorotniov in Kiew das internationale Street-Art-Festival «Muralissimo».