21. März bis 16. Mai

Ming Wong
«Angst Essen»

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Ming Wong über Fassbinder

Als junger Kunststudent im London der späten 90er-Jahre lernte ich im Kino des ICA Rainer Werner Fassbinders Filme kennen. Ohne viel über den berühmten Filmemacher zu wissen, stolperte ich unvorbereitet in die Welt der «Petra von Kant». In den nächsten anderthalb Stunden blinzelte ich, glaube ich, nicht ein einziges Mal. Diese Welt, in der es ausschließlich theatralische Frauen gab, berührte mich über alle Maßen. Ich verstand damals kein Deutsch, wusste aber dennoch, worum es ging. Ich war Petra von Kant. Im gleichen Semester sah ich dann noch «Angst essen Seele auf» (1973). Auch Emmi und Ali ergriffen mein Herz. Wie sie hatte ich dieses Gefühl der Ungerechtigkeit und weinte mit ihnen.

Ein paar Jahre später zog ich von London nach Berlin. In den letzten Monaten vor dem Umzug produzierte ich «Lerne Deutsch mit Petra von Kant» (2007). Das war mein «Integrationskurs» in Kultur und Sprache, bei dem ich wie Margit Carstensen möglichst deutsch zu sprechen, zu handeln und auszusehen versuchte. Genüsslich sagte ich Sätze wie «Oh Mann, ich bin so im Arsch», «Du ekelst mich an», «Meinst du, mir liegt was an dir?» oder «Wenn ihr wüsstet, wie dreckig ihr seid». Sie sind mir in Deutschland sehr zugutegekommen.

In meinen ersten Berliner Jahren war ich Stipendiat am Künstlerhaus Bethanien in Kreuzberg, wo sich Punks, Bohemiens, KünstlerInnen und die größte türkische Bevölkerungsgruppe Deutschlands tummeln. Ich nannte mich Gastkunstarbeiter, von denen ja eine ganze Generation nach Berlin strömte. Als Neuankömmling wurden die Themen aus «Angst essen Seele auf» plötzlich wieder virulent, und so wurde der Film die Folie meines nächsten Projekts «Angst Essen» (2008). In diesem Film stellte ich Szenen Fassbinders nach, wobei ich mit meinem schlechten Deutsch sämtliche Rollen übernahm. In meinem Film sprach also nicht bloß Ali «gebrochen» Deutsch, sondern auch alle anderen, einschließlich der Deutschen, redeten wie AusländerInnen. In meinem Film waren sich die Deutschen selbst fremd. In meiner Kunst finde ich immer wieder neue Parallelen zu Fassbinder, dessen FreundInnen und KollegInnen zu einer «Familie» zusammenwuchsen und die Grenzen zwischen Kunst und Leben ­zusehends verwischten. Auch in meinen neueren Projekten wird das Filmemachen selbst zu einem Teil des Films. Der Künstler verwandelt sich in einen Teil seines eigenen Werks. Privatleben, Performance und Kunst fließen ineinander. Die Kunst wird zu einer Erweiterung des Künstlerlebens.

Heuer ist mein siebtes Jahr in Deutschland. Immer noch spreche ich Deutsch wie Ali. Meinen zehnten Jahrestag werde ich mit je einem zweiten Teil von «Lerne Deutsch mit Petra von Kant» und «Angst Essen» feiern. Werde ich dann endlich «deutscher» wirken? Oder werden sich die Deutschen eher mir angleichen? In unserem kollektiven Kinogedächtnis kämpfen Emmi und Ali jedenfalls weiter. Ihr Kampf ist heute nicht weniger wichtig als 1974. Was soll ich denn sonst tun, als meine «Angst essen»?

Deutsches Filminstitut – DIF, Frankfurt am Main und die Rainer Werner Fassbinder Foundation (Hg.), Ming Wong on Fassbinder. – Fassbinder NOW, Film and Video Art., Berlin, 2013, S. 259–265.

Übersetzung: Thomas Raab

«Lerne Deutsch mit Petra von Kant» Ein-Kanal-Video-Installation
10 min, Loop, 2007

Diese Arbeit Ming Wongs ist Teil eines von ihm selbst entwickelten Intensivlernprogramms zu deutscher Sprache und Kultur, mit dem sich der Künstler auf seine Übersiedlung nach Berlin im August 2007 vorbereitete. Der Meinung, dass es einer der besten Wege, sich Einblick in eine fremde Kultur zu verschaffen, sei, die Filme dieses ­Landes zu sehen, nahm sich der Künstler einen seiner deutschen Lieblingsfilme zum Wegbegleiter. «Die bitteren Tränen der Petra von Kant» (1972) von Rainer Werner Fassbinder handelt von einer erfolgreichen, aber arroganten Modemacherin in ihren Mittdreißigern, die in tiefe Verzweiflung verfällt, als sie von der Frau, die sie liebt, verlassen wird. Indem Wong sich in die Rolle der deutschen Schauspielerin Margit Carstensen als Petra von Kant versetzt – eine ­Rolle, für welche sie zahlreiche Preise gewann – versucht er, die Bandbreite der Emotionen der Schauspielerin in der sich zuspitzenden Szene des Films nachzustellen, in welcher die tra­gische liebeskranke Antiheroine den Zu­stand der hysterischen Auflösung durchlebt. Mit dieser Arbeit probt der Künstler, durch Bewegungen und Gefühle zu gehen und Wörter für Situationen zu artikulieren, welchen er begegnen könnte, wenn er als ein übermittdreißigjähriger Single, Schwuler und einer ethnischen Minorität zugehöriger «mid-career» Künstler nach Berlin zieht – Gefühle der Bitterkeit, der Verzweiflung, des Scheiterns. So wird er mit den richtigen Worte und Ausdrucksformen ausgerüstet sein, um seinen deutschen MitbürgerInnen wirkungsvoll seine Gefühle zu kommunizieren.


«Angst Essen»
Ein-Kanal-Video-Installation
27 min, Loop, 2008

Während seines Artist-in-Residence-Auf­enthalts im Künstlerhaus Bethanien wurde Ming Wong durch die starke türkische Präsenz in Berlin Kreuzberg zu dieser Videoarbeit «Angst Essen» inspiriert, einer Rekonstruktion von Rainer Werner Fassbinders Film «Angst essen Seele auf» (1973), der die Geschichte von Emmi erzählt, einer älteren Putzfrau aus München, die sich in den viel jüngeren marokkanischen Gastarbeiter namens Ali verliebt. Das ungleiche Paar unternimmt den Versuch zusammenzuleben, was damals ein soziales Tabu, wenn nicht sogar einen Skandal darstellte. In Fassbinders Film führt ihre Beziehung unter dem Druck von fremdenfeindlichen und diskriminierenden sozialen Reaktionen zu einem Desaster. Ming spielt in «Angst Essen» alle Rollen selbst – weibliche und männliche. In gebrochenem Deutsch verkörpert er bis zu fünf Personen gleichzeitig und wechselt dauernd zwischen verschiedenen Identitäten wie Geschlecht, Alter oder Nationalität. Indem er alle ProtagonistInnen in einer ihm unvertrauten Sprache spielt, spiegelt Ming den Antagonismus zurück auf jeden einzelnen Charakter und verwandelt so jede Figur in das «Andere» oder «das Fremde». Jenseits der Reflexion auf Identität und Alterität – eines der zentralen Themen seiner künstlerischer Arbeit – haben Mings Filme immer eine zutiefst komische und unterhaltsame Dimension, welche die positiven Potenziale eines spielerischen Ausagierens des Status des «Dazwischenseins» – zwischen Ethnien, Sprachen und Geschlechtern – deutlich macht.

Kamera:
Carlos Vasquez
ProduktionsassistentInnen:
Jungju An, ­Sonja Schmidt
Make-up:
Julia Lohmüller, Katrin Wespel, Lyn Kato
Unterstützende SchauspielerInnen:
Kate Fulton, Hermann Heisig
Stills:
Anja Teske, Job Janssen, Anouk Kruithof


Ming Wong Geboren 1971 in Singapur, lebt und arbeitet in Berlin. Er nahm an der 53. Biennale in Venedig 2009, an der Singapur Biennale 2011, an der Sydney Biennale 2010, an der Gwangju Biennale 2010 und an der Liverpool Biennial (UK) 2013 teil. 2013 hatte er Einzelausstellungen in der Shiseido Gallery (Japan) und im Centre d‘Art in Neuchatel (Schweiz). Derzeit läuft von Ming Wong eine Überblicksausstellung im Minsheng Museum of Art in Shanghai (China).