Kontrollierte Körper

Vorwort
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Seit den sozialen Bewegungen ab den 1970er-Jahren (Feminismus, Schwulen- und Lesben-, Behindertenbewegung etc.) haben sich Geschlechterrollen und Körperideale zunehmend in Richtung einer Vielzahl von gelebten Identitäten jenseits oder zwischen den alten Normen von Männlichkeit und Weiblichkeit, Schönheit und Stärke ausdifferenziert. Dennoch sind Körper weiterhin, oder wieder vermehrt, unter Kontrolle. Das westliche Schönheits- und Schlankheitsideal des 20. Jahrhunderts erstreckt sich unter den Bedingungen der Globalisierung auch auf Gesellschaften, deren Ideale bisher andere waren. Personen, die bestimmte Körperideale deutlich verfehlen, werden heute teilweise diskriminiert. Tendenzen wie der «ethische Materialismus», der dem Konsum eine existenzielle Rolle zuschreibt, oder «Lookism», der besagt, dass das Aussehen ein Indikator für den gesellschaftlichen Wert einer Person ist, sind gängige Muster geworden. Studien belegen, dass Castingshows, wie zum Beispiel die TV-Show «Germany’s Next Topmodel», das Körperbild von Jugend­lichen stark beeinflussen. Tendenzen zu Essstörungen wie Magersucht oder Bulimie können damit verstärkt werden. Das kunstraum lakeside Programm im Wintersemester thematisiert Aspekte der medialen und ökonomischen Kontrolle von Körpern, aber auch von Möglichkeiten der Kritik und Subversion derselben.

Die beiden niederländischen Künstlerinnen L.A. Raeven hinterfragen seit mehr als einem Jahrzehnt die gesellschaftliche Konstruktion der Schönheits- oder Attraktivitätsnorm extremer Schlankheit in Bildern der Mode, der Werbung und in den Me­dien. Für ihre oft provokativen Arbeiten greifen die Künstlerinnen Strategien der Anwerbung, des Castings, der Vermessung und Kontrolle von «idealen Körpern» aus dem Fashion- und Werbebusiness auf und stellen diese, nur scheinbar übertrieben, zur Schau. Indem L.A. Raeven den Glamourfaktor solcher Situationen stark reduzieren, treten Zwang und übersteigerte Selbstkontrolle hinter den Bildern schöner Körper hervor. Deren Unheimliches liegt dann darin, dass dieselben Körpermaße im einen Fall als attraktiv und im anderen Fall als krankhaft verstanden werden ­können. Nimmt man etwa den Lakeside Science & Technology Park mit seiner überwiegend aus männlichen Mitarbeitern bestehenden Belegschaft als Beispiel, so zeigt sich, wie sehr auch heute noch bestimmte Bereiche der Wirtschaft und Forschung geschlechtlich konnotiert sind, in diesem Fall durch die enge Verbindung von Technologie und Männlichkeit. Fokussieren L.A. Raeven vor allem auf weibliche «Idealkörper», so rückt die zweite Ausstellung in diesem Wintersemester Vorstellungen von Männlichkeit in den Mittelpunkt. Die Künstlerinnen Banu Cennetog˘lu (TR) und Philippine Hoegen (BE) präsentieren das künstlerische Werk von Masist Gül (1947–2003), eines türkischen Schauspielers und Bodybuilders, dessen bildnerische Arbeiten erst nach seinem Tod öffentlich wurden. Cennetog˘lu und Hoegen zeigen das gesamte Archiv dieser außergewöhnlichen Persönlichkeit in einer Installation, die sich auch mit der Problematik posthumer Ausstellungen von zu Lebzeiten unbekannten KünstlerInnen beschäftigt. Gül, der in seinen 300 Film(neben)rollen ein bestimmtes Männerbild verkörperte, das von Stärke und Härte gekennzeichnet war, konterkarierte diese Idee von Männlichkeit in seinen «privaten» Zeichnungen, Collagen, Gedichten und vor allem in seinen comicähnlichen Büchern durch eine Mischung aus Superheldentum, Melancholie und Autoaggression.

 

Christian Kravagna, Hedwig Saxenhuber