24. Jänner bis 14. März
Masist Gül

 

Von Banu Cennetoğlu & Philippine Hoegen

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Ein künstlerisches Werk erst posthum ­sichtbar zu machen ist eine delikate und gewagte Angelegenheit, besonders wenn der betreffende Künstler zeit seines Lebens von der offiziellen Kunstgeschichte nicht wahrgenommen wurde. Es besteht immer ein Risiko, dass der Künstler, das Werk oder beide in diesem Prozess vereinnahmt oder exotisiert werden. In diesem Fall ist der betreffende Künstler Masist Gül, dessen Werk und Person von sehr besonderer Art sind.

 

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1905–1973: 68 Jahre Rinnsteinmythen – Das Leben des Rinnsteinwolfs

 

Er war einer dieser Vögel, die in den Dreck gefallen waren mit gebrochenen Flügeln – Er war einer der Pflastersteine, die man vom Rand des Gehsteigs bricht – Er war einer der Vagabunden und Nichtsnutze, die kein Zuhause kennen – Er ging ins Dunkel, verwirrt …

 

Von Geburt an sehnte er sich nach der Zärtlichkeit seiner Mutter und den Moneten seines Vaters – Angesichts der Zivilisation war er schlicht ein Skandal – Die ersten Dinge, die er sah im Leben, waren tausendfache Grausamkeit und Qualen – Er ging ins Dunkel, verwirrt …

 

Er war der geborene Dichter … Er war der größte Dichter auf Erden – Er war skrupellos den Schlechten gegenüber, war unschlagbar, böse und gemein – SEIN GRÖSSTER FEIND WAR ER SELBST …

Er schnitt sich in jede Stelle seines Körpers – Er ging ins Dunkel, verwirrt …

 

Er war von Geburt an verflucht. Nicht ­einmal mit eigenem Geld konnte er sich amüsieren – Er war ein Mensch ohne Ehre, keine Frau konnte ihn jemals lieben – Er hatte kein Recht auf das Glück, und auch sein Schicksal konnte er nicht ändern – Er ging ins Dunkel, verwirrt …

Er war erstaunlich schnell und mächtig wie ein Superheld – Bei seiner Geburt schmeckte er Hundemilch und nicht die Milch der Mutter – Er wurde groß in Grausamkeit und Qual, er fing zu krabbeln an sofort nach der Geburt – Er ging ins Dunkel, verwirrt …

 

Alle Hausbesetzer standen unter seinem Schutz – Auch wenn er selber kriechen sollte: Er wollte ihnen überleben helfen – Doch war er sein größter Feind, ER SELBST, er war voller Hass – Er ging ins Dunkel, verwirrt …

 

Er war als flügelloser Vogel in diese seltsame Welt geboren – Er konnte nicht auf und davon, er blieb schutzlos auf offener Straße – UND SCHLIESSLICH WAR ER KÖNIG mit dem Namen Rinnsteinwolf – Und schließlich tönte sein Ruhm den Leuten in den Ohren … und reichte bis in den Himmel. – Von Masist, dem Pflasterstein.

 

(Aus dem Englischen von Stefan Schessl)

Quelle: Documenta Magazine, No 1–3, 2007, Reader

 

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Masist Gül (1947–2003) war ein Künstler armenischen Ursprungs, der in Istanbul geboren wurde und dort lebte. Obwohl er seinen Lebensunterhalt als Schauspieler verdiente, der in über 300 kleineren Rollen spielte, war er in seinem Privatleben, das der Außenwelt verborgen blieb, ein außergewöhnlicher Künstler. Er produzierte eine große Anzahl von Collagen, Zeichnungen und Gedichten. Während der 1980er-Jahre konzipierte Gül eine Serie von sechs handgefertigten Büchern mit dem Titel «Kaldırım Destanı – Kaldırımlar Kurdunun Hayatı/Rinnsteinmythen – Das Leben des Rinnsteinwolfs», in der er sich des Formats eines periodischen Comicheftes bediente. Die ersten Reproduktionen dieser Originale wurden als «Bent 001» im Jahr 2006 veröffentlicht.

            Das Archiv von Masist Gül, das Originale von «Kaldırım Destanı – Kaldırımlar ­Kurdunun Hayatı» und verschiedene Zeichnungen sowie Schriften, Fotografien und Bücher des Künstlers umfasst, wurde erstmals 2006 von BAS in Istanbul ausgestellt. Später war das Archiv 2007 im Etablissement d’en Face in Brüssel und 2008 bei der 5. Berlin Biennale im Schinkel Pavillon in Berlin zu sehen.

            Diese Ausstellung zeigt das gesamte Archiv von Gül sowie eine Installation mit dem Titel «Excavate and be Damned?» als Ergebnis einer Forschung von Banu Cennetoğlu and Philippine Hoegen zu einem bisher unveröffentlichten Werk von Masist Gül.

 

Banu Cennetoğlu arbeitet mit Foto­grafie, Installation und Druckschriften. Ihre Arbeiten wurden in zahlreichen Institutionen gezeigt, u.a.: Secession, Wien (2013); Kunstverein Hannover (2013); Artist’s Space, New York (2013), Nicosia Municipal Arts Centre, Zypern (2012); Kunsthalle Basel (2011); Kumu Art Museum, Estland (2011); La Centre de la Photographie Genève (2010); La Colección Jumex, Mexico City (2008); San Francisco Art Institute (2007), Walker Art Center, Minneapolis (2007). Sie war Teilnehmerin an The Project Biennial of Contemporary Art, D-0 ARK Underground in Bosnien, der Manifesta 8 in Murcia, der 3. Berlin Biennale, der 1. Athen Biennale und der 10. Istanbul Biennale. 2009 vertrat Banu Cennetog˘lu mit Ahmet Ög˘üt die Türkei bei der Biennale in Venedig. 2006 initiierte sie BAS, einen Projektraum in Istanbul mit Schwerpunkt auf der Sammlung und Produktion von Künstlerbüchern und Druckschriften. Zusammen mit Philippine Hoegen edierte sie Bent, einen Verlag (2006–2009) für die Produktion und den Vertrieb von Künstlerbüchern aus der ­Türkei.

www.b-a-s.info

 

Philippine Hoegens Tätigkeiten um­fassen das Ausstellen ihrer eigenen und anderer Arbeiten, das Organisieren von Diskussionen und das Schreiben über Kunst und als Form der Kunst. In Zusammenarbeit mit Carolien Stikker betreibt sie BREW in Brüssel, einen Raum zur Organisation von Projekten im Feld der zeitgenössischen Kunst. Sie ist Gründerin und Vorstandsmitglied von Calcite Revolt, einer Plattform des Austausches zwischen KünstlerInnen, KuratorInnen, KritikerInnen und TheoretikerInnen. Mit Banu Cennetog˘lu edierte sie Bent, einen ­Verlag (2006–2009) für die Produktion und den Vertrieb von Künstlerbüchern aus der Türkei. Sie ist Dozentin für bildende Künste an der AKV St Joost Academy for Visual Art, Breda/Den Bosch, NL, und Teilnehmerin des a.pass artistic research program in Brüssel. Jüngste Präsentationen: 2013 Performative lecture «Exterior Monologue», University of Art and Design, Cluj-Napoca, RO; Ausstellung und öffentliche Diskussion «Unexpressive», De ­ketelfactory, Schiedam, NL; 2012/13 Ausstellung and öffentliche Diskussionen «Adaptations», mit Banu Cennetog˘lu, The Collective Gallery, Edinburgh; 2012 Radio essay und Ausstellung «Mapping the Landscape», Museum van Bommel van Dam, Venlo, NL; 2011 Ausstellung and Publikation «Mutualisms», Proximity and C-PS, Chicago.

www.philippinehoegen.com