16. Mai bis 28. Juni
«Ungesellige Geselligkeit»

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The Institute for the Art and Practice of Dissent at Home, Cindy Milstein, Erik Ruin, Sarah J Stanley

Kuratiert von Monika Vykoukal

Soziale Beziehungen als Zentrum unseres gesellschaftlichen Lebens stellen sich gleichzeitig in zwei gegensätzlichen Aspekten dar: dem Hang, in Gesellschaft zu treten und sich zu «vereinzeln», eben der – so Kant – «ungeselligen Geselligkeit». Ausgehend von dieser Dualität erkundet das Projekt die Möglichkeiten und Einschränkungen von sozialen Beziehungen im aktuellen gesellschaftlichen Moment im Zeichen der «Krise» und welche Formen des Widerstands und der Entwicklung von Alternativen sie eröffnen können.

           Die Bild-Text-Arbeiten und Skulpturen von Sarah J Stanley beginnen mit der persönlichen Geschichte, ihrer Kindheit in einer streng christlichen Familie, in der die Apokalypse eine bevorstehende prophetische Wahrheit darstellte und anderes Empfinden oder Denken zur Verdammnis führte. Sarah setzt sich mit den Bildwelten und Fantasien, die sie dazu als Kind entwickelte, auseinander. Sie verwendet Witz und Humor, um Gefühle von Verlust, Trauer und Hass nach ihrem Bruch mit der religiösen Gemeinschaft ihrer Familie auszudrücken. Ihre Objekte repräsentieren eine Propagandafantasie einer «satanischen neuen Welt».

            Mit ihrer Arbeit möchte Stanley dazu einladen, sich eine Landschaft der Gegensätze vorzustellen, die einander jedoch gleichen: die Werte der westlichen, christlichen Kirche der Pfingstbewegung und der «Bösewicht» ihrer Religion. Mit der Entwicklung der modernen Kirche zu jener Spendensammlungs- und Anwerbungsmaschine, die sie jetzt ist, präsentiert Sarah J Stanley die Idee, dass die Kirche des Antichrists (wie im Buch der Offenbarung beschrieben) auch so lange Zeit hatte sich zu entwickeln und ähnlich erprobte Formen verwendet, um erlebnishungrige Menschenmengen anzulocken. In ihren Performances geht es um die Dynamik von Gemeinschaft und korrektem Verhalten – in Bezug zu den Normen des Häuslichen und des Kunstbereichs.

            Ausgehend von der eigenen Familie, als Zelle der Gemeinschaft denken Vater Gary und Mutter Lena, mit ihren Kindern als Institute for the Art and Practice of Dissent at Home, darüber nach, wie die Familie, mit ihren eigenen sozialen Beziehungen, in die weiteren Gesellschaft passt, und inwiefern sie sich anpassen muss, oder auch abweichen und inwiefern sie widerständig werden kann. Das Institute beschäftig sich vor allem auch mit Klimawandel, und damit der Zukunft, die an die eigenen Kinder weitergegeben wird, sowie der Machtlosigkeit als Kleinfamilie vor dieser Frage. Diese Fragen werden durch Erkundungen des Lakeside Parks, neu gestellt, und in einer Familienperformance artikuliert werden. Daneben wird das Institute auch ein neues Amateurvideo, in der Tradition von familiären Home-Movies, zu diesen Fragen zeigen.

          Konzeptuell spielt das Institute gerade mit Themen, die in Deleuze und Guattari's Buch Anti-Oedipus (1972) entwickelt werden, mit der Absicht  die scheinbar naturgegebenen Kategorien unseres Leben, wie die Familie, als sozial geformt und fortgeführt, und somit auch für Veränderung offen aufzuzeigen. Das Erleben von Normen als Naturgegeben und Ewig, hier in der Einheit der Nuklearfamilie, zeigt sich auf der individuellen Ebene als Selbstüberwachung und auferlegter Konformismus in der kapitalistischen Produktion, die unausweichlich, wie das Institute bei seinem Aufenthalt in Lakeside darlegen wird, zum ungebremsten (out of control) Klimawandel führt.

            Erik Ruin und Cindy Milstein möchten in einer Reihe von Bildgeschichten in ihrem Buch Paths toward Utopia: Graphic Explorations of Everyday Anarchism (Oakland, CA: PM Press, 2010) qualitativ andere soziale Beziehungen beleuchten, die in alltäglichen Momenten geteilten Lebens ebenso sichtbar sind wie im weitreichenden Wiederherstellen von Gemeingut an Orten von Wisconsin bis Ägypten. Ihre Arbeit macht anhand konkreter, gegenwärtiger Praktiken unterschiedliche Potentiale von Solidarität und egalitärer Gemeinschaft - so fragmentiert und fragil sie seien mögen - erfahrbar, um, so Milstein, Brüche in der scheinbar reibungslosen Oberfläche sozialer Kontrolle aufzuzeigen.

            Für Ruin und Milstein ist der unsichere Weg in Richtung Utopie grundlegend «unsere Straßenkarte zu einer emanzipatorischen Gesellschaft». Hier stolpern sie über unerwartete Begegnungen und Entdeckungen von geteilten Erfahrungen und daraus entstehenden Möglichkeiten des gemeinsamen Handelns. Ihre Bildgeschichten zeigen die Widersprüchlichkeit, den Versuchscharakter und die Überraschung von Bewegungen wie Arab Spring und Occupy sowie auch von Orten wie Bibliotheken und Parks. Sie erzählen Geschichten, die nicht einen unausweichlichen Weg beschreiben, sondern vielmehr Pfade in einer utopischen Zielrichtung sind und immer – in Milsteins Worten – von «Schlaglöchern und Verheißungen» übersät sind.

 

The Institute for the Art and Practice of Dissent at Home ist eine kunstaktivistische Zelle in einem privaten Wohnhaus in Everton, Liverpool, UK. Das Institute wird von Lena Simic und Gary Anderson gemeinsam mit ihren Kindern Neal, Gabriel und Sid betrieben und interessiert sich dafür, eine kritische Kunstpraxis zu entwickeln, die sich aus dem alltäglichen Familienleben entwickelt. Im eigenen Haus werden Künstlerresidenzen und Veranstaltungen organisiert. Aktuelle Aktivitäten umfassen Familienperformances auf Protesten und in Kunsträumen, wie dem Bluecoat, Liverpool (2010) und der Arnolfini, Bristol (2009). (twoaddthree.org)

Cindy Milstein ist Mitglied der Kollektive Interference Archive in Brooklyn, New York, und Institute for Anarchist Studies. Sie ist die Autorin von «Anarchism and Its Aspirations» (AK Press, 2010) und war letztes Jahr aktiv am Occupy-Protest in Philadelphia, Pennsylvania, und am ­Studierendenstreik in Quebec beteiligt. Ihre Texte zu diesen beiden Bewegungen sowie zu anderen Themen sind auf cbmilstein.wordpress.com nachzulesen.

Erik Ruin ist Druckgrafiker, Puppenspieler, Mitbegründer der KünstlerInnenkooperative Just Seeds und Mitherausgeber von «Realizing The Impossible: Art against Authority» (mit Josh MacPhee, AK Press, 2007). Mehr zu seinen Arbeiten findet sich auf: erikruin.tumblr.com

Sarah J Stanley lebt und arbeitet in Glasgow. Sie studierte Malerei in Aberdeen, Schottland, und gründete dort 2007 die Künstlerinitiative Project Slogan, die ein Programm von Ausstellungen und Artist in Residences organisiert. Neben Malerei und Zeichnung umfasst ihre künstlerische Arbeit auch Bücher, Musik, und Performance. (sarahjstanley.com)

Monika Vykoukal studierte Kunstgeschichte und Museumskunde in Großbritannien und arbeitete dann in Wien, ab 2003 als Kuratorin in Aberdeen (Schottland) und von 2009–2010 in Wolverhampton (England). Sie konzentriert sich besonders auf Kunst im politisch-aktivistischen Bereich, sozial engagierte Kunst und Graffiti Writing. Sie lebt in Paris.