Geografie

Vorwort
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Eines der Phänomene, die aus den Transformationen hervorgingen, die man sich angewöhnt hat, Globalisierung zu nennen, ist die Herausforderung des Individuums, sich zu lokalisieren beziehungsweise seinen Ortssinn funktionsfähig zu halten. Ohne Frage stellt die erhöhte Mobilität von Menschen, Märkten, Bildern und Ideen an den Unternehmer nicht dieselben Herausforderungen wie an die in den globalen Biennalezirkus integrierte Künstlerin oder den Migranten. Dennoch lässt sich feststellen, dass verschiedene Gruppen von den Veränderungen in Geschwindigkeit und Rhythmus der transnationalen Bewegungen, der Notwendigkeit, sich auf wechselnde Umgebungen einzustellen und auf die eine oder andere Art zugleich hier und dort zu sein, unmittelbar betroffen sind. Die beiden Ausstellungen des Wintersemesters behandeln sehr unterschiedliche Aspekte jenes Spannungsverhältnisses von Orten und Wegen. Die erste Ausstellung mit dem Titel «A Sense of Place» geht sehr konkret von den Arbeitsbedingungen (junger) KünstlerInnen aus, die sich – oft für die Dauer eines Stipendiums oder Projekts – an diversen Punkten der Welt aufhalten, sich mit ihrer Arbeit auf spezifische Kontexte einlassen und deren Produkte dann häufig wieder an anderen Orten zur Diskussion stellen. Eva Engelbert und Katrin Hornek haben, basierend auf ihren eigenen Erfahrungen, eine Ausstellung mit Kollegen und Kolleginnen organisiert, mit denen sie – in einigen Fällen eben infolge der temporären Überschneidung von Künstlerwegen an einem der zahlreichen Orte von Artist-in-Residence-Programmen – bestimmte Fragen zur räumlichen und zeitlichen Übertragbarkeit von künstlerischen Arbeiten, die auf lokale Gegebenheiten Bezug nehmen, verbinden. Welche Formen kann der «Sense of Place» sowohl der KünstlerInnen als auch ihrer wandernden Produkte unter diesen heutigen Bedingungen annehmen? Die Vorschläge der neun beteiligten KünstlerInnen in dieser Ausstellung debattieren den Ortssinn der Kunst heute. Im Rahmen der Ausstellung findet eine Lesung der Schriftstellerin Anna Kim statt, die in den letzten Jahren unter anderem mit Romanen und Essays zum Verhältnis von Reisen und Identität bekannt geworden ist. Mit diesem literarischen Programmpunkt soll auch der Tatsache der Bezugnahme bildkünstlerischer Produktionen auf literarische Werke Rechnung getragen werden.

Die iranische Künstlerin Ghazel bestreitet die zweite Ausstellung dieses Semesters. Ihre Arbeit widmet sich den Ambivalenzen von Wegen und Orten aus der Perspektive der Migration. Unter dem Titel «Geopolitics of Roots – No Man’s Land» behandelt Ghazel die Widersprüche zwischen der oft überlebensnotwendigen Bewegung von Menschen über Grenzen und Kontinente hinweg und den Bedürfnissen nach Zugehörigkeit und der Sehnsucht nach einer Art von Heimat. Charakteristisch für ihre Arbeiten ist die Verschränkung von politischen und persönlichen, praxisorientierten und ästhetischen Seiten. Ghazels grafische Gesten in ihren überarbeiteten Weltkarten rebellieren gegen nationale Zwangsidentitäten und tödliche Grenzpolitiken, zeichnen aber auch Bilder der Verwurzelung und des Strebens nach familiärer und sozialer Verortung. Einige ihrer Videos sind zeichenhafte Erzählungen von individuellen Geschichten, übersetzt aus der Wirklichkeit ihrer politischen und sozialen Arbeit in eine performative Sprache. Im Rahmen ihrer Ausstellung stellt Ghazel einen Filmabend mit Arbeiten anderer KünstlerInnen zusammen, welche die von ihr selbst verfolgten Probleme in unterschiedlichen geopolitischen Konstellationen behandeln.

 

Christian Kravagna, Hedwig Saxenhuber