14. Dez. bis 2. Feb.
Igor Grubić

366 Liberation Rituals

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366 Gründe

Einer der Ausgangspunkte meiner 366 Liberation Rituals ist der 40. Jahrestag von 1968. Die Arbeit besteht aus kleinen Alltagsritualen, die Probleme der Gesellschaft berühren, in der ich lebe. Mit ­meinen Aktionen beschwöre ich den Enthusiasmus der Jugend, die Rebellion, Idealismus, Nostalgie herauf. Ungeachtet der Tatsache, dass sie bisweilen utopisch, naiv oder sogar pathetisch wirken mögen, verweisen die Rituale auf das menschliche Grundbedürfnis, die Welt um uns herum in Zweifel zu ziehen – und auf das Bedürfnis nach Veränderung.

Weil ich bald 40 Jahre alt werde und also durch die Midlife-Crisis gehe, bekämpfe ich mit meinen Aktionen aber auch die gesellschaftlich erzwungene Wahrnehmung meiner Altersgruppe, die der Konvention nach «Seriosität», «beruf­liche Leistung» und materielle Sicherheit bieten soll. Durch kleine Rituale versuche ich, mich ein wenig von meinen Routinegewohnheiten zu befreien – angefangen vom Sicherheits- und Konformitätsbedürfnis, die mit dem Alter zunehmend in den ­Vordergrund treten. Die Rituale sind eine Methode, dem inneren Zwang, meinen Automatismen etwas entgegenzusetzen – aber auch meinen Schamgefühlen und dem Bedürfnis nach Anerkennung.

Nach einer Reihe von tragischen Er­eignissen fasste ich 2007 einen radikalen Entschluss. Ich beendete meine Arbeit als Filmproduzent und entschied, das ganze Jahr 2008 ausschließlich der Kunst zu widmen – nicht so wie vorher neben dem Beruf, mit dem ich meinen Lebensunterhalt verdient hatte. Mit diesem Entschluss ­wollte ich meine eigene Mutlosigkeit, ­meine Lethargie, das beginnende ­Schweigen beenden.

Ich hatte schon seit Langem festgestellt, dass in der Kunstwelt immer dieselben Leute unterwegs sind. Also fragte ich mich, an wen ich mich denn eigentlich wenden wollte oder musste. Ich erwog, zu den Strategien meiner früheren Arbeiten zurückzukehren – auf die Straße, unter die Leute zu gehen. Damit bezog ich mich zum Teil auf das Erbe der Konzeptkunst in meiner Region, in der zum Beispiel die Group ofSixArtists eine wichtige Rolle spielte.

Obwohl die Aktionsfotos für sich genommen nicht beunruhigend wirken, erzeugten sie in der Öffentlichkeit heftige und ganz gegensätzliche Reaktionen. Die einen applaudierten, andere warfen Eier, ­manche bedrohten mich sogar körperlich. Priester regten sich auf, die Polizei ­reagierte, Security-Leute mussten gerufen werden und Fotografen, die mir assistieren sollten, wandten sich vom Projekt ab. Die Reaktionen der BürgerInnen erinnerten mich an den Film «Easy Rider» aus den 1960er-Jahren. Ähnliches geschah ja in den 1970er- und 1980er-Jahren auch bei uns, als hier Hippies und Punks verprügelt wurden. In solchen Situationen stellt sich mir immer eine simple Frage: Warum ­reagieren Leute so wütend auf die, die anders sind und andere Meinungen haben?

Das Aufführen von Ritualen in der Öffentlichkeit abseits der geschützten Kunstszene führte schon bei meinen frühen Arbeiten zu großartigen Erlebnissen. Immer wieder besteht die Übung darin, sich der ungewissen Reaktionen anderer auszusetzen. Das Wichtigste an diesen Prozessen (und daran, an meinen eigenen Prinzipien festzuhalten) ist, die Konfrontation zu erleben und dabei zu beobachten, wie ich mit potenzieller Gefahr, Aggression und Ablehnung zurande komme.

Ich trenne Kunst und Alltag nicht. Indem ich aber die Rolle eines Künstlers annehme, bin ich mir bewusst, dass ich in die Öffentlichkeit trete, in der die Augen aller auf mich gerichtet sein können. Alle meine Aktionen müssten daher verantwortungsvoll sein.

Bei der Planung der Aktionen ließ ich mich indes von emotionalen Impulsen leiten, die viel stärker als intellektuelle sind. Wenn ich an die Ungerechtigkeit in unserer Gesellschaft denke, die mich stört, werde ich gefühlsmäßig zur Tat herausgefordert. Dadurch, dass ich mich dann der Öffentlichkeit «aussetze», erlebe ich eine Art Katharsis. Dabei versuche ich, mir treu zu bleiben und klar auszudrücken, was ich denke und fühle. Ich versuche, mich gegen die Passivität der Mehrheit zu stellen, überzeugt davon, dass immer die Chance besteht, wenigstens eine oder einen zu ermutigen sich zu äußern. Kreativität erkundet, experimentiert, reißt Grenzen nieder, trifft sich mit anderen im Spiel. Erst dadurch entwickelt sich Toleranz und Mitgefühl. Kreativität befreit. Wären wir alle kreativer bei dem, was wir tun, dann lebten wir in einer glücklicheren Gesellschaft. (Igor Grubić)

 

Igor Grubić, geboren 1969 in Zagreb/Kroatien, schrieb sich 1992 in einen Kurs für Philosophie und später psychotherapeutische Erziehung, basierend auf Gestalt- und Transaktionsanalyse, ein. Als ­bildender Künstler produzierte er seit 1996 hauptsächlich site-spezifische Interventionen im öffentlichen Raum, mit dem Ziel, andere in diesen schöpferischen Prozess einzubeziehen. Seit 2000 arbeitete er als Produzent, Journalist und Direktor von Fade In, einem Studio für aktivistische Videos, Dokumentationen, TV-Reports und sozial ausgerichtete TV-Werbung. Weit­reichende Ausstellungstätigkeit, u.a. ­Manifesta 4, Frankfurt; Tirana Biennale 2; 50. Oktobersalon, Belgrad, «Gender Check», Wien und Warschau; 11. Istanbul ­Biennale.