30. März bis 20. Mai 

Atlas of Fantastic Science - From the Július Koller Visual Archive

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Das Werk Július Kollers handelt von der Alltagsrealität, die sich in einer Öffentlichkeit artikulierte, welche staatlicher Aufsicht und Kontrolle unterworfen war. Damit steht es in scharfem Kontrast zur Privatperson Kollers. Dieses Phänomen ­findet sich parallel auch in den Œuvres anderer Konzeptkünstler aus der Tschechoslowakei, Ungarns, Polens, Rumäniens und dem Rest des ehemaligen Ostblocks. Wie Zdenka Badovinac schreibt, mussten diese KünstlerInnen nicht selten die Rolle von KunsthistorikerInnen und ArchivarInnen übernehmen. Viele von ihnen schrieben auch programmatische Texte und Manifeste.(1) Kollers Interesse am Alltag und an öffentlichen Belangen führte ihn unmittelbar zum Sammeln von Zeitungsausschnitten und -bildern. Das Ergebnis dieser seiner Suche nach «unidentifizierbaren Objekten» und deren Archivierung ergänzt die Dokumentation seiner Konzepte und Aktionen maßgeblich.

Das Raumfahrtzeitalter in der kommunistischen Tschechoslowakei

Die 1960er-Jahre waren in der Tschechoslowakei durch eine immense Popularisierung von Wissenschaft und Technik ausgezeichnet, die von der so erfolgreichen Präsentation des Landes bei der Weltausstellung 1958 in Brüssel ausging. Es war ein Jahrzehnt des Technikoptimismus, der durch triumphale wissenschaftliche Entdeckungen angetrieben wurde. Dies wirkte sich indes auch auf alle Gebiete der visuellen Kultur aus.(2) Ursprünglich trug das Werk Július Kollers keine merklichen ­Hinweise darauf, dass er die Technikbegeisterung seiner ZeitgenossInnen teilte. Diese waren die ProtagonistInnen der sogenannten geometrischen Abstraktion und des Neokonstruktivismus (vertreten durch die Gruppen Nová citlivost and Klub konkrétistov). Einzig seine Zivilistenbilder weisen Spuren des technischen Fortschritts auf. Der jüngst geöffnete Nachlass enthüllt jedoch Interessantes. Koller sammelte und archivierte unglaublich viele Informationen über Technik, Wissenschaft und die Raumfahrtsforschung aus Printmedien.(3) Während der wissenschaftliche und technische Fortschritt das normale Alltagsleben zu durchdringen begann und Teil des Lebensstils, der Werbung, des Designs, des Journalismus und des Massenkonsums wurde, entdeckte Koller in den Zeitungen «kulturelle Situationen», anhand derer er seine Antikunstsignale aussenden konnte. In seinem Zeitungsausschnittsarchiv, das zahlreiche massenkulturelle Aspekte um­fasst, finden sich kollektive Sensationen, pseudowissenschaftliche Spekulationen, Utopien sowie Artikel zu Zivilisationen und Raumfahrt. Was aber wollte Koller mit der Anhäufung dieses Materials erreichen? War er bloß fasziniert von diesen Printmedien? Oder steckt hinter diesem Archiv eine klare Absicht? […]

            Von 1967 an kamen zu den Magazinen und Tageszeitungen noch Zeitschriften zu Geschichte und Populärwissenschaft hinzu. Kollers Sammlung enthält ganze Jahrgänge von Populärwissenschaftsjournalen wie Veda a život (Wissenschaft und Leben), Svet techniky (Welt der Technik) oder Letectví – Kozmonautika (Luftfahrt – Raumfahrt). Überaus begeistert verfolgte Koller die Landung der amerikanischen Raumsonde Apollo 12 auf dem Mond. In einem, mit Veda a technika (Wissenschaft und Technik) bezeichneten Stapel findet sich Schritt für Schritt der gesamte Verlauf dieser amerikanischen Weltraummission. Das Archiv umfasst Artikel aus der in- und ausländischen Presse, auf Papier geklebt, von kleinen Schnipseln bis zu richtigen Reportagen.

Realität und Fiktion

In den 1970er-Jahren nimmt Kollers Archiv eine Wendung. Mit den politischen Veränderungen im Zuge der sogenannten Normalisierung in der Tschechoslowakei begann auch Kollers Technikoptimismus abzuflauen. Zugleich wurden Hypothesen über etwaige Kontaktaufnahmen zwischen unserer Zivilisation und Außerirdischen häufiger. Koller sammelte auch sämtliche Informationen über den Ursprung der alten Hochkulturen und über die neuesten archäologischen Forschungen, derer er in der Populärwissenschaft habhaft werden konnte. Sein Augenmerk galt nunmehr dem sagenhaften Atlantis und UFOs. Vor dem Hintergrund dieser scheinbar neutralen pseudowissenschaftlichen Artikel der da­maligen Zeit tauchten in der Massenpresse so viele Belege für die Existenz eines ­Utopia auf, dass diese fast real erschien. Koller hypostasierte dies zu einer neu entdeckten Realität. Er arrangierte, beschrieb und archivierte alle Belege mit großer Sorgfalt. Offenbar wollte er zu jedem ­Thema so viele Informationen wie möglich anhäufen. […] Als er begann, das entdeckte Material mit dem Kürzel «U.F.O.» zu markieren, setzte er etwas in Gang, das für ihn charakteristisch werden sollte – nämlich der Akt, die Realität in Fiktion zu verwandeln. [...]

Koller, der Sammler, und Koller, der Künstler

In seinem Manifest Potreba kozmohumanistickej kultúry (Wir brauchen eine kosmohumanistische Kultur) aus 1969/70 beschrieb Július Koller seine Kunst als Beitrag zu ebendieser neuen Kultur: «In dieser komplexen Raum-Zeit verspüre ich den Wunsch nach einer neuen Kultur. Die moderne Kunst hat nicht nur alles sogenannte Künstlerische, sondern auch alles sogenannte Nichtkünstlerische absorbiert; ganze Zivilisationen mit faszinierender Technik und die gesamte Natur gehören zum Beuteschatz der heutigen Kunst. Angesichts dieser Lage werde ich lieber zu einem Erzeuger von Signalen, die durch unser Universum getragen ­werden. Als Individuum eigne ich mir, ungeachtet aller traditionellen Mittel und Milieus, einzelne Elemente dieses Universums an. Mein Ziel liegt nicht in der Kunst der Gegenwart. Ich will zur Schaffung einer neuen kosmohumanistischen Kultur beitragen.»(4)

Das Archiv als Botschaft an die Zukunft

Július Kollers Archiv ist ein ­subjektiv geordnetes universelles Weltenmodell. Bestimmt vom Leben und dem ­kulturellen Umfeld des Künstlers spiegelt es mehr als bloß seine Interessensgebiete. Es birgt eine Vielzahl von Bezugsmaterialien aus der visuellen Kultur der Tschechoslowakei von den 1960er- bis in die 1980er-Jahre. Es enthält populäre Zeitschriften, Tageszeitungen, Reiseführer, Ansichtskarten, Drucke, Plakate – einfach alles, was es auf Papier gedruckt gibt.

Das sozialistische Regime deprivierte seine BürgerInnen. Es fehlten nicht nur Konsumprodukte, es fehlten auch Informationen. Der Informationsmangel kennzeichnete alle KünstlerInnen, die im Kommunismus lebten und arbeiteten. Kollers Archiv war nur einem kleinen Kreis von Leuten zugänglich. Das heißt, es sollte nie öffentlich ausgestellt werden. Es war eine Privatsonde auf Mission durch den öffentlichen Raum und die Massenkultur.

 

Daniel Grúň

 

1   Petrešin-Bachelez, Nataša: Archiv(y). In: Baladrán, Zbynĕk und Vít Havránek, Atlas transformace. Prag: tranzit 2009, S. 33–34.

2   Kramerová, Daniela und Vanda ­Skálová (Hg.): Der Traum von Brüssel. Der tschechoslowakische Beitrag zur EXPO 58 in Brüssel und der Lebensstil in der ersten Hälfte der 1960er-Jahre. Kat. Prag/Brno: Arbor vitae 2008, S. 16–17.

3   Vgl. Spieker, Sven, The Big Archive. Art from Bureaucracy. Cambridge/Mass.: MIT Press 2008, S. 11–12.

4   From Artist’s Programmes and Actions. Július Koller a Peter Bartoš. In: Výtvarný život, 15, 1970, cˇ. 8, S. 41.

 

Július Koller 1939 geboren in Piešt‘any (SK); 1954–58 Škola umeleckého priemyslu (Industrial Art), Bratislava; 1959–65 Vysoká škola výtvarných umení (Academy of Applied Arts and Design), Bratislava. 2007 gestorben in Bratislava.

 Einzelausstellungen (Auswahl): 2010 Retrospective exhibition (tour), National Gallery, Bratislava; Galerie Martin Janda, Wien; 2009 Július Koller Symposium, National Gallery, Bratislava; 2007 Galerie Martin Janda, Wien; «Space is the place», gb agency, Paris; 2004 «Július Koller – Kontakt», kunstraum muenchen, München; 2003 «Utopia Station» – La Biennale di Venezia, 50. Esposizione Internazionale d’Arte, Venedig; «Július Koller Univerzálne Futurologické Operácie», Kölnischer Kunstverein, Köln; 1991 «Post-komunikácia», Považská galéria umenia, Žilina (SK); 1969 «Antigaléria», Komunálna opravovňa pančúch, Bratislava; 1968 «Permanentná demystifikácia 1., 2.», V-klub, Bratislava.

Gruppenausstellungen (Auswahl): 2010 «Les Promesses du passé», Centre George Pompidou, Paris; 2009 «1968. Die Große Unschuld», Kunsthalle Bielefeld, Bielefeld (D); «Performing the East», Kunstverein Salzburg, Salzburg (A); 2007 «Learn to Read», Level 2 Gallery, Tate Modern, London; 2006 «Erzählungen», Kunsthaus Graz, Graz (A); «… und so hat Konzept noch nie Pferd bedeutet», Generali Foundation, Wien; «Julius Koller/ Jiri Kovanda», Index, Stockholm; «Kontakt», MUMOK, Wien; 2004 «Who if not we…?», BAK, Utrecht (NL), Centraal Museum, Utrecht (NL); «Utopia Station», Haus der Kunst, München; 2000 «Global Conceptualism», MIT List Visual Arts ­Center, Cambridge/MA, Ludwig Museum Budapest, John Hansard Gallery, Southampton (UK); 1999 «Global Conceptualism: Points of Origin (1950–1980)», Queens Museum of Art, New York; 1997 «Face à l’Histoire (1933– 1996)», Musée national d’art moderne Centre George Pompidou, Paris; 1996 23. São Paulo Art Biennale, São Paulo; 1994 «Der Riss im Raum», Martin Gropius Bau, Berlin; Galeria Zacheta, Warschau; 1992 «Zwischen Objekt und Installation», Museum am ­Ostwall, Dortmund (D); 1990 «Súcasné slovenské výtvarné umenie«, Slovenská národná galéria, Bratislava; «Umeni proti totalite», Bratislavský hrad, Bratislava; «Slovenská fotografia šest´desiatych rokov», Dom umenia, Bratislava; 1987 «Art of Today II.», Club of Young Artists, Budapest Gallery, Budapest; 1979 «Works and Words», Stichting de Appel, Amsterdam; 1974 «Prospective ‘74», Museo de Arte contemporanea, São Paulo; 1970 «J.K. Ping-Pong Klub», Galerie für junge Künstler, Bratislava; «Polymúzická priestor», Piešt‘any (SK).