Nachbarschaft

Vorwort
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Die Frage nach den Nachbarschaften, denen wir täglich begegnen, ist eine ebenso wichtige wie komplexe. Denn in einem Raum, in dem sich unterschiedliche und ungleiche Machtbeziehungen entfalten – wie dem kulturellen und ökonomischen Raum der Gegenwart – sind weder ein klar definierter Ort noch eine Gemeinschaft, ebenso wenig wie eine lokale kulturelle Tradition, einfach als gegeben zu betrachten. Sie existieren nicht länger als feste Bezugsgröße. Orte sind das Ergebnis kultureller, ökonomischer, ethnischer, technologischer und medialer Konstruktionen.
Der Kulturwissenschaftler Arjun Appadurai hat den Begriff der Nachbarschaft («neighbourhood») als einen Begriff in die Diskussion eingeführt, der in Bezug zum Lokalen («localities») steht. Bei Nachbarschaften handle es sich um die virtuelle oder aktuell räumliche Realisierung von Lokalität über soziale Beziehungen. Nachbarschaften entstehen nicht nur in Auseinandersetzung mit den ökologischen und ökonomischen Gegebenheiten, sondern vor allem in Kontrast und in Abgrenzung gegenüber anderen. Appadurais Überlegungen zur sozialen Konstruktion von Lokalität sind Ergebnis eines Nachdenkens über die Konsequenzen eines «global cultural flow». Das Lokale, so Appadurai, sei, anders als viele meinten, eine an sich fragile soziale Errungenschaft.

In diesem Zusammenhang interessieren uns dieses Wintersemester im Kunstraum Lakeside Fragen nach den Nachbarn – zum Beispiel danach, wie weit sich in Klagenfurt und Umgebung jene Initiativen, die eine Gegenkultur, Gegenöffentlichkeit oder schlicht einen sozialen Freiraum anstreben, behaupten können. In einer gemeinsamen Diskussion im Dezember werden VertreterInnen von selbst organisierten politischen oder kulturellen Räumen Strategien ihrer Durchsetzung und Realisierung erörtern.
Wie sich der soziale Ort, dieses Lokale verändern kann, zeigt auch das langfristige Forschungsprojekt von Karen Andreassian, das 2002 an einem Ort begann, von dem man in Österreich gemeinhin wenig weiß, in der armenischen Hauptstadt Jerewan, am dortigen Institut für Kunstgeschichte, und das heuer seinen Abschluss fand. Diesem Lokalen, der sozio-politischen Landschaft Armeniens, nachzuspüren, und die Figur des «politischen Spaziergängers» in das Land zu tragen, als eine Folge des Widerstands gegen die manipulierten Präsidentschaftswahlen von 2007, hat «das Leben der Beteiligten verändert und ihnen das Gefühl persönlicher Würde, kollektiver Solidarität gegeben und die Bereitschaft, die eigene Meinung zu verteidigen».
Auf unserer Recherche im erweiterten geografischen Raum des Alpen-Adria-Gebiets stießen wir auf das «Isola Neighbourhood Project» in Mailand, das der Kurator und Kunstkritiker Marco Scotini im Kunstraum Lakeside mit einer dokumentarischen Ausstellung nachzeichnen wird. Sie zeigt die Aktivitäten der BewohnerInnen des Mailänder Stadtviertels, gemeinsam mit KünstlerInnen, PhilosophInnen und StadtplanerInnen, die sich gegen ein Developerprojekt der Stadt wenden, und demonstriert, wie sich das Isola Art Center als bedeutendes, Gemeinschaft stärkendes Zentrum bewährt hat.
Die Untersuchung des Begriffs von kultureller Differenz zwischen West und Ost findet ihre Anwendung im Konzept der Kuratorinnengruppe WHW aus Zagreb für die im Januar im Kunstraum stattfindende Ausstellung «Ground floor America». Während der zweijährigen Vorbereitung für die diesjährige Biennale in Istanbul, die WHW leitete, war das Kollektiv hauptsächlich in den Regionen des Mittleren Ostens, Zentralasiens, Osteuropas und dem Kaukasus unterwegs, in der «alle (Länder) in verschiedener Ausprägung mit der ihnen aufgezwungenen und/oder internalisierten „Randstellung“ in Bezug auf das modernistische Projekt des Westens und der Sowjetunion zu kämpfen haben». WHW wird im Rückblick auf ihre kuratorische Tätigkeit Fragen nach der «Diskrepanz zwischen der lokalen und internationalen Rezeption von Kunst stellen und ob unter den weltweiten Bedingungen kultureller Produktion von heute überhaupt (lokales) Wissen geschaffen werden kann».

Christian Kravagna, Hedwig Saxenhuber